Der Raubgraf vom Regenstein


Der Graf vom Regenstein hatte einst die schöne Jungfrau der Heimburg gefangen und ins schauerliche Verlies geworfen, weil sie gar nicht daran dachte, sein Weib werden zu wollen. Die harte Behandlung der Gefangenschaft sollte helfen, ihr Herz zu erweichen. Umsonst hatte der Raubgraf versucht, ihre Liebe zu gewinnen. Nun quälte und peinigte er sie, gab ihr nur das Nötigste, um sie am Leben zu halten und bald ihren Willen zu brechen. Nach und nach vergingen ihr die Kräfte, sie magerte ab und saß zuletzt in Lumpen auf dem eiskalten, steinigen Boden des Kerkers. Sie war wahrlich kurz davor, sich zu beugen, weinte und beschloss, zur heiligen Jungfrau zu beten: „Bitte weise mir einen Weg aus dem Gefängnis oder hole mich zu dir in den Himmel!“ Und, wie sie Amen sagte, begann plötzlich ein großer Sturm um den Regenstein zu brausen. Tief in ihrem Kerker sitzend, der kein Licht und keinen Wind von außen hereinließ, hörte die Jungfrau der Heimburg doch die Antwort ihres Gebets. Wie dick konnte die Wand aus Sandstein schon sein, wenn sie den Sturm dort draußen vernahm?

 

Sie wollte es versuchen, sich durch die Sandsteinmauern zu kratzen. Zwar hatte sie kein Werkzeug im Loch, doch besaß sie den diamantenen Ring, ein Geschenk des Verlobten, mit dem sie ihre Arbeit begann: Sie schabte mit ihrem Ring an dem Felsen und sah mit großer Freude, dass der Stein mürbe und bröckelig war und ihrem Sinnen fast von selbst nachgab. Tag und Nacht, ein ganzes langes Jahr, arbeitete sie ununterbrochen und endlich entstand eine Öffnung so groß, dass sie hindurchsehen konnte. Nach dieser langer Zeit, sah sie wieder die Wunder der Welt: Den blauen Himmel, die goldene Sonne, grüne Bäume … und atmete die köstliche, frische Luft. Noch eifriger als zuvor, kratzte sie ein Loch, groß genug, sich hindurchzuzwängen, aber oh weh: Als sie hinaustrat, sah sie die tiefe Schlucht zu ihren Füßen. Schwindelerregend und furchtbar gähnte ihr die Tiefe des Abgrunds entgegen. Beinahe wäre sie in ihrem Kerker geblieben, doch welche Schmach, welcher elende Tod, hätte sie darin erwartet? Nein, sie musste es versuchen und zögerte nicht: Mit aufgeschürften Fingern und blutenden Füßen, kletterte sie tiefer und immer tiefer hinab.

 

Fürwahr, sie stand unterm Schutz der heiligen Jungfrau, denn bald war das Unmögliche vollbracht. Am Boden angelangt, erhellte die aufgehende Sonne den Weg zu ihren Eltern die auf Heimburg nach so langer Zeit noch immer in Trauer waren. Erst jetzt erfuhren sie, wer der Entführer ihres geliebten Kindes gewesen und sammelten eiligst Freunde und Reisige, um gegen den Regenstein zu ziehen. Geraume Zeit widerstand die Feste dem Ansturm, bis der Raubgraf endlich einer List erlag: Die verhassten Feinde der Heimburg hatten sich zurückgezogen, worauf der Graf spottete, man könne die Mauern seines Regensteins im Kampfe niemals überrennen. Aushungern wäre die einzige Option, ihn in die Knie zu zwingen, was er nun befürchtete. Rasch sandte er seine Mannen in die umliegenden Orte, in der sicher nur kurz währenden Waffenruhe, Lebensmittel heranzuschaffen. – Wenig später polterten dreißig Wagen, bis unter die Planen beladen mit dem Köstlichsten, was der Gau zu bieten hatte. Wie man aber die Tore öffnete und die Wagen in die Feste ließ, sprangen aus allen Wagen Reisige hervor.

 

Auch die Bauern rissen sich Kittel und Kapuzen vom Leibe, hatten alle einen Harnisch drunter und plötzlich stand die ganze Feste voll von Waffenbrüdern, der Jungfrauen Unrecht zu vergelten. Nur wenig konnten die Regensteiner Wachen dieser Entschlossenheit entgegensetzen Aller Widerstand war unmöglich, das sah auch der Raubgraf ein und suchte nun heimlich zu entkommen. Aber wie nur? Weil alle Ausgänge vom Feinde besetzt waren, knüpfte er rasch aus Betttüchern ein Seil, ließ sich an der steilsten Seite des Felsens hinunter, entkam damit dem Tode aber nicht dem unglücklichen Schicksal.

 

Drei Tage darauf ließ ein goldener Morgen die Menschen selig erwachen: Heute soll große Hochzeit sein! Auf dem höchsten Turm des Regensteins, stand die Jungfrau mit dem Liebsten, der ihr einst den diamantenen Ring geschenkt, umschlungen in einer wundervollen Ewigkeit. Beide sahen die Dunkelheit im lichtvollen Farbenmeer versinken und, wie dieser Tag sich dem Ende zuneigte, waren sie auf ewig verbunden, gekrönt und ihnen der Regen-stein von den Eroberern zum Geschenk gemacht!

 

© (aufgeschrieben von Carsten Kiehne)