Einen Feind umarmen


Die Heimburger und die Regensteiner waren sich lange schon spinnefeind. Das wäre an sich ja nicht elend und ungewöhnlich, wenn man den verhassten Widersacher nicht tagtäglich von seiner Feste aus sehen und sich darüber sorgen müsste, was der andere nun schon wieder ausheckt. So ärgerte sich Ritter Anno von der Heimburg, der es eigentlich liebte, die Sonne aufgehen zu sehen, denn der verhasste Regenstein versperrte seine Sicht darauf. Graf Heinrich vom Regenstein hingegen konnte sich kaum mehr an einem Sonnenuntergang erfreuen, denn die Heimburg im Blickfeld ließ stets seine Gesichtszüge entgleisen. Um das Jahr 1250 herum erwuchs der Streit zur beinharten Fehde, der Grund war die Liebe. Wie Liebe das Fass des Grolls zum Überlaufen bringen kann? Nun ja, da Graf Heinrich vom Regenstein der Bia von Heimburg von Herzen zugetan war, verengten sich die Herzvenen des Ritter Annos und er schwor blutige Rache. So lauerte er mit den Seinen dem Bruder des Grafen Heinrichs auf und ließ ihn hinter-rücks ermorden. Das wiederum spornte Heinrich an, mit einem großen Heerhaufen gen Heimburg zu ziehen, die Feste zu belagern und zu berennen. Was aber endlich zum Ziele führte, war nicht die Waffenstärke, sondern vielmehr die Kraft der Liebe.

 

Heinrichs Mannen sahen sich im Recht, musste solch ein feiger Mord an einem ihrer Brüder doch gerächt werden, zumal der junge Graf als Freund unter den einfachen Landsknechten aufgewachsen war. Annos Waffengefährten hingegen waren hin- und hergerissen: Ihr Anführer war ein selbstgefälliger und verbitterter Mann, der selten ein gutes Wort an den Seinen ließ. Nur seine Schwester, die fromme Bia, die liebten sie alle und sie liebte den Grafen von Regenstein, der soeben gegen die Tore trat. Wer also war der rechte Herr? Gegen solche Entschlossenheit kann Zweifel nimmer bestehen. Als die Wälle bereits genommen waren und im Vorhof der Heimburg Waffen tosend aneinanderstießen, schritt Bia erhobenen Hauptes mitten hinein ins Kampfgemenge. Andächtig schwiegen da die Klingen und die Feinde verharrten. Stolz und schön wie sie war, kniete sie vor Heinrich nieder, der aber zog sie hoch und umarmte sie mit Leidenschaft, worauf allen Kämpfern die Lust aufs Schlagen und Stechen verging. Als nun Graf Heinrich vor Bia niederkniete und um ihre Hand anhielt, da senkten auch die tapfersten Krieger ihre Schwerter. Und alles rief: „Hoch, ein dreifaches Hoch, auf uns‘re Herrin und unser‘n Herrn, Graf Heinrich vom Regenstein!“

 

Als Ritter Anno bemerkte, dass jeglicher Widerstand gebrochen ward, rannte er fort und ward niemals mehr wiedergesehen. Und Graf Heinrich? Der ward nun Herr über die Heimburg und den Regenstein, obschon er beide Burgen seiner Gräfin Bia zu Füßen legte. So gilt beim Streit noch heute als beste Waffe, den Feind zu umarmen. 

 

© (aufgeschrieben von Carsten Kiehne)